Die Wahrheit suchen, wo man sie finden will
Im Herbst diesen Jahres werden wir des 30-sten Jahrestages des Mauerfalls, der Öffnung des Eisernen Vorhangs und eng damit verbunden des Starts zur Deutschen Einheit erinnern. Das historische Datum fällt genau in die heiße Wahlkampfphase von drei Kernländern der untergegangenen DDR. Am 1. September 2019 wählen Sachsen und Brandenburger neue Landtage. Die Thüringer sind am 27. Oktober aufgerufen, ihre Stimmen für einen neuen Landtag abzugeben. Die derzeit aktuellen Umfragen lassen nur wenig Gutes für die Volksparteien CDU und SPD erwarten. Die Sozialdemokraten müssen sogar fürchten, dass sie im Herbst von den Rechtspopulisten der AfD auf Platz Drei verdrängt werden oder sogar noch weiter in der Wählergunst zurückfallen.
Politiker der Volksparteien beschäftigt die bange Frage, wieso sie die Menschen im Osten so brüsk fallen lassen wollen. Altbekannte Fragen tauchen wieder auf. Was ist bei der Deutschen Einheit schiefgelaufen? Warum können die „Ossis“ nicht mit den „Wessis“? Und, warum identifizieren sich immerhin fast ein Viertel der Wählerinnen und Wähler in den neuen Bundesländern kaum bis gar nicht mit unserem Staat und seiner repräsentativen Demokratie?
Die SPD Sachsens versucht nun einen neuen Anlauf, die Wählergunst im Osten zurück zu gewinnen. Frei nach dem Motto: „Mehr Verständnis und Integration für die Ostdeutschen“. Das klingt nach Schuldeingeständnis. Schon im Februar soll ein „Zukunftskonvent Ost“ der SPD eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ ins Leben rufen. Sie soll sich mit der Zeit von November 1989 bis zur Deutschen Einheit und besonders mit der Arbeit der Treuhand beschäftigen.
Sachsens Gleichstellungs- und Integrationsministerin Petra Köpping war die Ideengeberin. In ihrem Buch „Integriert doch erst mal uns – eine Streitschrift für den Osten“ beklagt sie Demütigungen der Ostdeutschen und Ungerechtigkeiten während der Wendezeit und in den ersten Jahren danach. Dabei bedient sich die Politikerin, die aus der Kommunalpolitik in die Landespolitik kam, eines Narrativs, das sich vieler gängiger Klischees bedient. Die Arbeit der Treuhandanstalt in den Jahren nach der Wende dient als Zielscheibe für ihre Kritik. Die These lautet kurz gefasst: Die Treuhandanstalt habe im Interesse westlicher Konkurrenten ehemalige staatseigene Unternehmen an Wessis verkauft, die sie dann „platt gemacht“ hätten. Pegida und AfD seien die Spätfolgen dieser Ereignisse.
Zum Beweis führt sie den Fall der Margarethenhütte in Großdubrau an, die „über Nacht“ geschlossen wurde. Lohngelder, Betriebspatente und Rezepturen für die Herstellung von Porzellanisolatoren seien ebenso plötzlich verschwunden. Damit bedient Petra Köpping die tradierte Legende um das Verschwinden alter VEBs der DDR. Eine Überprüfung der Fakten spricht allerdings gegen ihre Darstellung. In alten Aufsichtsratsprotokollen ist nachzulesen, dass die Margarethenhütte als Teil der VEB Keramische Werke Hermsdorf im Zuge eines geplanten Börsengangs einer Konzentration der Betriebsstandorte zum Opfer fiel. Der Aufsichtsrat des Unternehmens fasste den dazu nötigen Beschluss „einvernehmlich“ mit den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat im Dezember 1990. Der Standort Großdubrau wurde dann im Mai 1991 geschlossen. Wäre das „über Nacht“ passiert, müsste es sich wohl um die längste Nacht aller Zeiten gehandelt haben. Die Antwort auf eine Große Anfrage von Bündnis 90/ Die Grünen im Jahr 1992 bestätigt diese Fakten. Man sollte eben die Wahrheit nicht dort suchen, wo man sie finden will.
Eignet sich die Geschichte der Deutschen Einheit und der ersten Jahre nach 1990 wirklich für solche Verschwörungslegenden? Und eignet sich eine solche Sichtweise, um verlorenes, beziehungsweise nie groß ausgeprägtes Vertrauen der Ostdeutschen zu gewinnen? Die Legenden vom „platt machen“ lassen einige wesentliche Punkte aus.
Ende der 80er Jahre –also kurz vor dem Mauerfall – veröffentlichte die OECD eine Rangliste der größten Industriestaaten der Welt. Unter den ersten Zehn fand sich auch die DDR. Erst nach der Wende stellte sich heraus, wie wenig realistisch diese Einschätzung war. Bei einem Besuch der Warnow-Werft in Warnemünde im Januar 1990 sah ich auf dem Werksgelände ein Gefangenenlager, das mit Wachtürmen und Stacheldraht umgeben war. Die Warnow-Werft war damals der größte Hersteller großer Schiffe, die an die Staaten des sozialistischen Handelssystems RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) verkauft und geliefert wurden. Die Gefangenen aus dem Lager hatten die Aufgabe, die riesigen Stahlplatten für den Schiffbau per Hand mit Stahlbürsten zu entrosten. Wenige Monate zuvor konnte ich bei einer Hamburger Werft beobachten, wie solche Platten in eine Entrostungsmaschine geschoben wurden und blank auf der anderen Seite wieder herauskamen. Bei einem Gespräch mit einem der Leiter der Warnow-Werft stellte sich auch heraus, dass der Manager anders als seine Kollegen im Westen seine wirtschaftlichen Ergebnisse nicht beziffern konnte. Das wüssten nur die „Genossen in Ost-Berlin“, erklärte er. In mir wuchsen Zweifel über die Konkurrenzfähigkeit solcher Betriebe.
Der Mangel an Konkurrenzfähigkeit wurde spätestens nach der Währungsunion mit der Ablösung der Ostmark durch die D-Mark für alle sichtbar. Verschärft wurde diese Situation durch das Ende des RGW-Handelssystems Ende 1990 und der Abschaffung des so genannten Transferrubels. Das bedeutete den kompletten Zusammenbruch der Ostexporte an die „sozialistischen Länder“ des RGW, in denen sich schnell die Zahlungsunfähigkeit einstellte. Offene Rechnungen, der Verlust der Stammkunden – der Anpassungsprozess der sozialistischen Planwirtschaft an die Kräfte des freien Marktes nahm an Schärfe zu. Das war schmerzlich für die Betroffenen.
Köppings Einschätzung, dass politische Entwicklungen von der folgenden Verunsicherung und den Verlustängsten der Menschen in den neuen Bundesländern auch heute noch beeinflusst wird, ist abseits der üblichen Verschwörungstheorien dennoch nicht von der Hand zu weisen. Die Stimmungslage im Osten ist die Mastkur für Populisten aller Art. Aber taugt die Bestätigung, dass es schwere Zeiten für die Ostdeutschen gab, um Vertrauen zu gewinnen und die Extreme klein zu halten? Verständnis zu zeigen, ist keine Politik. Wer politisch gesehen nur Asche auf sein Haupt streut, bietet ein Mitleid heischendes Bild, aber keine politische Vision von der Zukunft. Den Menschen in Ost und West vor einer ungewissen Zukunft die Angst zu nehmen, ist die Kernaufgabe der Politik.