Einig im Hass
Neulich komme ich bei einem Bummel durch die Innenstadt beim Gedenkstein am Ort der ehemaligen Münchner Hauptsynagoge vorbei. Ich bemerke, dass irgendjemand eine zusammen geknüllte Brotzeittüte und eine zerquetschte Getränkedose in die Nische des Mahnmals nahe der eingravierten Menora gesteckt hat. Gedankenlosigkeit, Pietätlosigkeit, bewusste Provokation? Ich bin innerlich aufgewühlt. Ich nehme den Müll aus der Nische und trage Dose und Tüte zu dem ein paar Meter entfernten Abfallkorb. Ein Mann beobachtet die Szene, schüttelt den Kopf und murmelt irgendetwas von dem ich nur das Wort „Sau….!“ verstehen kann. Dann verschwindet er hastig im vorbeiziehenden Strom der Passanten.
Ich werde diese kleine Episode aus der Kategorie „erlebter Antisemitismus“ seither nicht mehr richtig los. Ist die Gürtellinie für Moral und Ethik in Deutschland nach unten gerutscht? Wird Antisemitismus wieder salonfähig? Wer genau hinhört spürt, dass sich das Verantwortungsgefühl unserer Gesellschaft in Bezug auf die Nazi-Verbrechen und deren Geschichte verändert.
Entwickeln Franz Schönhubers bei Republikaner-Kundgebungen gesprochener Satz „Ich habe nichts gegen Juden, aber ich muss nicht jeden Juden mögen!“, das gebetsmühlenhaft wiederholte „Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass…“ und das AfD-Wording „Biodeutsche“ und „völkisch“ langsam aber sicher eine hoch giftige Wirkung? Auch Versuche, die zwölf Jahre der Naziherrschaft in Deutschland als „Fliegenschiss in der deutschen Geschichte“ zu relativieren, leisten dazu Beiträge.
Dass Worte als Waffen wirken, hatte der Philosoph und Politikwissenschaftler Dolf Sternberger schon in den fünfziger Jahren in seiner Artikelsammlung „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ beschrieben. Schon 1945 bemerkte er zur Sprache des Menschen: „Und jedes Wort, das er redet, wandelt die Welt, worin er sich bewegt, wandelt ihn selbst und seinen Ort in dieser Welt. Darum ist nichts gleichgültig an der Sprache, und nichts so wesentlich wie die façon de parler. Der Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen. Seien wir auf der Hut!“
Das Langzeitgedächtnis nicht nur unserer Gesellschaft droht nachzulassen. Die Zahl der antisemitischen Straftaten hat 2018 im Vergleich zum Vorjahr um knapp zehn Prozent zugenommen. Sie liegt jetzt bei 1646 Delikten. Besonders erschreckend ist die Tatsache, dass sich die Zahl der Gewalttaten von 37 Fällen im Jahr 2017 fast verdoppelte. 62 mal schlugen Täter zu, die meist aus dem rechtsextremen Milieu stammen. 43 Menschen wurden dabei verletzt. Die Summe der Delikte könnte sich sogar noch erhöhen, weil die Statistik noch nicht mit den Bundesländern abgestimmt und somit vorläufig ist. Das ist erschreckend.
Der Blick auf andere Länder kann darüber nicht hinwegtrösten. Auch wenn derzeit der wachsende Antisemitismus in Frankreich die Schlagzeilen bestimmt. Das Land galt ebenso wie Großbritannien in den Augen jüdischer Menschen in den dortigen gut integrierten Gemeinden als sicherer Hafen. Jetzt stieg die Zahl der Straftaten und Gewaltdelikte gegen jüdische Menschen in Frankreich um 74 Prozent an. Dabei blieb es nicht nur bei Hakenkreuzschmierereien, geschändeten Gräbern auf jüdischen Friedhöfen und Beschimpfungen am Rande der Gelbwestendemonstrationen. Selbst die ehemalige Anführerin der Protestbewegung wurde Zielscheibe von Beschimpfungen. Ingrid Levavasseur wurde jüngst von anderen Gelbwestenprotestlern bedrängt, geschubst, bespuckt und als „sale juive“ –„Drecksjüdin“ beschimpft. Ein Zeichen dafür, wie stark die einstige bürgerliche Protestbewegung von rechts unterwandert wurde. Antisemitische Hetzer zeigen offen den „Quenelle“, einen halben Hitlergruß.
In Großbritannien verlassen acht Abgeordnete die Labour-Party und gründen eine unabhängige Gruppierung im Unterhaus. Als einen von mehreren Gründen für diesen Schritt gaben sie nicht nur den Zick-Zack-Kurs von Labour-Chef Jeremy Corbyn in Sachen Brexit an, sondern auch den zunehmenden Antisemitismus in den Reihen von Labour. Eine der Abgeordneten berichtete, Genossen hätten sie wiederholt rassistisch beschimpft. Sie ist Jüdin.
Mit dem Hass auf Juden, kruden Verschwörungstheorien macht die Regierungspartei Ungarns Politik. Auch aus anderen Neumitgliederstaaten der EU sind die nationalistischen Töne samt ihren antisemitischen Untertönen nicht zu überhören. Es ist nicht zu übersehen. Mit der Rückkehr des populistisch angetriebenen Nationalismus in Europa kehrt auch rechtsextremer Egoismus in die Gesellschaft zurück. Dabei bekommen die Antisemiten nicht nur von rechts Zuwachs. Im Hass auf Israel und die Juden allgemein sind sich Rechtsextreme, Linke, die sich als Freunde Palästinas geben, und Islamisten einig. Gemeinsam sorgen sie für eine bleierne Stimmungslage, die nicht länger banalisiert werden darf.
Israelische Politiker haben in Gesprächen mit deutschen Juden immer wieder die Frage gestellt, wie sie im Land der Täter leben könnten, die den Holocaust, die millionenfache Vernichtung jüdischen Lebens begingen? Die Antwort darauf wurde seit 1949 von allen Bundesregierungen mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen. Im Lauf der Jahrzehnte nahm die Brisanz dieser Frage ab. Jetzt denken hierzulande wieder viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden über die richtige Antwort auf diese Frage nach.
Mit einem jüdischen Freund habe ich vor Jahren einmal die Frage diskutiert, warum er neben Deutschland, wo er geboren wurde und aufwuchs, auch Israel als Heimat betrachtet. Meine Frage war von einer gewissen Naivität geprägt. Seine Antwort bestand aus dem Hinweis auf die Geschichte – auch die Geschichte seiner Familie. Dann sagte er: „Israel ist für uns der sichere Hafen, für den Fall der Fälle – eine Möglichkeit.“ Neulich änderte er diesen Satz. Die Möglichkeit ist jetzt zur Alternative geworden.