Wahl mit Qual oder das Urteil des Paris
Was hat die Entscheidung der über tausend Delegierten des anstehenden CDU-Parteitags mit dem Trojanischen Krieg zu tun? Die Analogie zur griechischen Mythologie drängt sich auf. Es ist das Urteil des Paris. Eris, die Göttin der Zwietracht, hatte vergrätzt über eine Nichteinladung vor dem Festsaal einen goldenen Apfel deponiert. Er sollte der schönsten Göttin gehören. Zeus kniff und wälzte die Entscheidung dieser Frage auf den Jüngling Paris ab. Er sollte wählen, ob Aphrodite, Athene oder Hera den Apfel bekommt. Der junge Mann wurde umworben. Er überreichte den Apfel schließlich Aphrodite, die ihm die schönste Frau der Welt zur Frau versprach. Bedauerlicher Weise war die Dame bereits verheiratet. Es war die schöne Helena, die Gattin von Menelaos, dem König von Sparta. Der Rest – die Entführung Helenas, die Belagerung und Vernichtung Trojas – steht bei Homer in der Illias nach zu lesen.
Die CDU-Delegierten befinden sich bei ihrem virtuellen Parteitag in einer ähnlich vertrackten Situation. Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen bewerben sich darum, die Nummer eins in der CDU zu werden. Egal für wen sich die Delegierten als neuen Vorsitzenden der CDU entscheiden, es werden immer zwei Kandidaten auf der Strecke bleiben. Ob die Verlierer das Urteil der Parteitagsbasis mit Gleichmut und der dem Sportsgeist gemäßen „stiff upper lip“ tragen werden, bleibt dahingestellt. Auch wenn das virtuelle Format der Veranstaltung kaum Hitzigkeit aufkommen lassen wird, sind bleibende Verwundungen bei den gescheiterten Aspiranten wahrscheinlich. Ein Blick in die Geschichte der Machtkämpfe in der CDU lässt vermuten, dass die drei nach dem Parteitag wohl keine dicken Freunde mehr werden, so wie Helmut Kohl und Rainer Barzel. Beide rangen um den Parteivorsitz. Das begründete eine beiderseits gepflegte Abneigung. Schon jetzt konnte man bei der Zeitungslektüre Zeuge so mancher kleinen Gehässigkeit werden, die von den Kandidaten oder ihren Gefolgsleuten an die Presse „durchgestochen“ wurden.
Die Christlich Demokratische Union Deutschlands könnte also eine ziemlich ungemütliche Zeit erleben und das in einem Jahr mit einer nahezu historischen Bundestagwahl, bei der erstmals in der deutschen Geschichte kein amtierender Kanzler bzw. keine Kanzlerin zu Wahl steht. Das bedeutet: Der Amtsbonus mit dem die Partei in den vergangenen Bundestagswahlen „wuchern“ konnte, ist im Herbst 2021 nur noch eingeschränkt vorhanden. Wie stark er sich mindert, wird vor allem davon abhängen, wie stark sich Angela Merkel, die wieder an alte Popularitätswerte anknüpft, im Wahlkampf für den Spitzenkandidaten der Union ins Zeug legt.
Deshalb wird die Frage, wer CDU und CSU als Spitzenkandidat in den Wahlkampf um Mehrheit und Kanzlerschaft führt, unausgesprochen über dem Parteitag schweben. Wie immer in der Geschichte der Bundesrepublik ist der CDU-Vorsitzende der erste Anwärter dafür. Seit 2005 musste sie nie beantwortet werden. Es galt: Der- oder diejenige mit den größten Erfolgschancen soll es sein. Das war seither ziemlich unumstritten Angela Merkel. Diesmal fällt die Antwort nicht so leicht. Bei einer nüchternen Betrachtung der Lage ist klar: Die Ausgangslage der Union ist nicht schlecht, aber ein Wahlsieg ist in einer politischen Landschaft kein Selbstläufer, die aktuell sechs oder (mit Blick auf die CSU) sieben Parteien im nächsten Bundestag vorsieht. Das Wahlziel der Union muss es sein, so stark abzuschneiden, dass gegen CDU und CSU kein tragfähiges Bündnis links von der Mitte zustande kommt. Wie immer soll der Spitzenkandidat der Garant dafür sein. Doch wer soll, oder besser kann es sein?
Jeder der drei möglichen CDU-Vorsitzenden weist Schwachstellen auf, die für Munition im anstehenden Wahlkampf sorgen könnten. Über Armin Laschet, wird verbreitet, er biete in der Pandemie-Krise keine sonderlich starke Performance. Friedrich Merz dürften seine erfolgreichen Jahre in der Wirtschaft nachhängen. Sie bieten SPD, Grünen und Linken genügend Potenzial, um ihn als „Knecht des Kapitals“ zu diffamieren. Und bei Norbert Röttgen wird die Erinnerung an das Jahr 2012 sicherlich wieder wachgerufen werden. Damals war er Umweltminister in Merkels Kabinett und Spitzenkandidat der CDU in NRW. Die Landtagswahl ging verloren. Röttgen zog sein Bundestagsmandat der harten Oppositionsbank in Düsseldorf vor. Die öffentliche und veröffentlichte Aufregung über seine Weigerung war groß. Der Mann mit dem großen Intellekt verlor sein Ministeramt. Das weckt Zweifel am Stehvermögen und dem dazu gehörenden hohen Frustpotenzial eines möglichen Kandidaten Röttgen.
Womit der Blick wieder auf den CSU-Vorsitzenden fällt. Markus Söder kann sich derzeit über gute Popularitätswerte freuen. Er weiß aber, dass er der CSU noch einen überzeugenden Wahlsieg bei der nächsten Landtagswahl „schuldig“ ist – nachdem die erfolgsverwöhnte Partei bei der letzten Landtagswahl gerade noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen ist. Deshalb sind seine Beteuerungen, wonach sein Platz in Bayern ist, keineswegs bloße Lippenbekenntnisse. Um ihn zum Kandidaten küren zu können, müsste die gesamte CDU so laut nach ihm rufen, dass sich Söder nicht verweigern kann. Die Geschichte der Unionsschwestern zeigt jedoch, dass dies bei CSU-Politikern so gut wie ausgeschlossen ist. Weder Edmund Stoiber noch Franz Josef Strauß waren uneingeschränkt bevorzugte Spitzenkandidaten.