Als die Mauer Risse bekam

Als die Mauer Risse bekam

Ich liebe, ich liebe doch alle, „alle Menschen, na ich liebe doch, ich setze mich doch dafür ein!“ Dieser gestammelte Satz gesprochen 1989 von Erich Mielke vor einer riesigen Menschenmenge auf dem Berliner Alexanderplatz markiert, wie kaum ein anderer das Ende des Arbeiter- und Bauernstaates DDR. Aus der Menge hagelte es Hohn und Spott auf den einst mächtigsten Mann der DDR, der mit seinem Ausspähungs- und Unterdrückungsapparat das sozialistische System so lange Jahre stabilisiert hatte. Aus dem gefürchteten Stasi-Chef war ein alter, dicklicher kleiner Mann geworden, der die Welt nicht mehr verstand, weil seine Welt gerade um ihn herum zusammenbrach.

Seine Späher waren im Alltag der DDR allgegenwärtig. Mielkes sozialistischer Staat liebte die Menschen so sehr, dass er niemandem erlaubte, frei zu reisen oder gar in den anderen Teil Deutschlands umzusiedeln. Wer sich dieser besitzergreifenden Liebe entzog und dabei erwischt wurde, landete im Gefängnis oder starb getroffen von Selbstschussanlagen oder den Feuerstößen aus den automatischen Waffen der „Schützer des antifaschistischen Grenzwalls“. Kinder konnten „Republikflüchtlingen“ und Regimekritikern von Staats wegen weggenommen werden. Der Staat bestimmte das Leben seiner Bürger – welcher Schlager gehört werden durfte, wie sich Kunst und Literatur darstellten. Wer ideologisch genügend gefestigt war, durfte studieren. Alle anderen mussten auf andere Berufe meist in der Produktion ausweichen. 

Selbst die Reiseziele seiner Bürger bestimmte der Staat. Dort im befreundeten „sozialistischen Ausland“ vor allem in Polen und in Ungarn erlebten viele Touristen aus der DDR, wie die kommunistischen Regime wankten und ihre Legitimation in Frage gestellt wurde. Sie spürten, dass die Breschnew-Doktrin, wonach die „Souveränität einzelner Staaten ihre Grenze an den Interessen der sozialistischen Gemeinschaft“ endet, auf dem Weg zum Müllplatz der Geschichte war. Zwanzig Jahre zuvor war diese Doktrin die Rechtfertigung für den Einmarsch von Truppen des „Warschauer Pakts“ in der aufbegehrenden Tschechoslowakei und die Niederwerfung des Prager Frühlings.

Erst zwanzig Jahre danach durfte sich manifestieren, dass nicht der Kapitalismus den Menschen von seiner Natur entfremdet, wie Marx in seinen Schriften behauptete, sondern der staatlich verordnete Kommunismus. Die Menschen wollten nicht alle gleich sein und von anderen regiert werden, die gleicher waren als sie und sich Privilegien aller Art leisteten. Der alte DDR-Witz, wonach sich das Volk der Arbeiter und Bauern vertreten durch seine Funktionäre in Autos fortbewegt, illustriert dieses Empfinden. Als Michail Gorbatschow daran ging, das alte System zu reformieren, um es zu erhalten, öffnete er die Flasche, aus dem der Geist der Freiheit entwich, wie der Djinni aus Aladins Wunderlampe. 

Wir im anderen Teil Deutschlands schauten verwundert und sorgenvoll dabei zu, wie das SED-Regime sich abmühte den Geist wieder in die Flasche zurückzubekommen. Das wäre nur gelungen, wenn der große sozialistische Bruder in Moskau bereit gewesen wäre, es hinzunehmen oder sogar dabei zu helfen, die friedliche Demonstration in Blut zu ertränken. Jede der ständig größer werdenden Montagsdemonstrationen in der DDR ab dem September 1989 wurde auf unserer Seite des Eisernen Vorhangs mit der Sorge begleitet, das Regime in Ost-Berlin könne ernst machen und gegen die Menschen mit Gewalt vorgehen. Denn die Bilder vom Massaker auf dem Tian-Anmen in Peking am 4. Juni 1989, als chinesische Truppen gegen demonstrierende Studenten gewaltsam vorgingen und viele von ihnen tötete, waren noch sehr lebendig. 

Die Urlauber aus der DDR, die Mitte August ein „Paneuropäisches Picknick“ am gerade zerschnittenen Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich nutzten, um sich in den „freien Westen“ abzusetzen, die Tausende, die sich in die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland flüchteten und dabei nicht mehr von der Polizei der „sozialistischen Bruderstaaten“ gehindert wurden, und die gewaltigen Montagsdemonstrationen auf den Straßen waren die ersten Risse in der Mauer des „antifaschistischen Schutzwalls“. 

Der Mut der Menschen, die in den Städten der DDR offen gegen das Regime auftraten und mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ die historisch einmalige friedliche Revolution begannen, sorgten dann endgültig für den Wunderherbst 1989. Die Deutschen in Ost und West feierten die Wiedervereinigung. Das lange verloren geglaubte Nationalgefühl, das sich höchstens bei Fußballweltmeisterschaften und Olympischen Spielen zurückmeldete, tauchte unser Land in einen Freudentaumel aus Schwarz, Rot und Gold. 

Nach der Feier kam die nüchterne Arbeit. Die Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR und schließlich der Einheitsvertrag wurden 1990 geschlossen. Die Kosten für die Einheit waren kaum überschaubar.  Die Liste der Ausgabenposten ist lang. Für die Umstellung der Privatvermögen Ost im Verhältnis 1:1, die Schaffung einer modernen Infrastruktur in den  Städten und Orten der ehemaligen DDR, die Übernahme der Ostrenten und die Altersversorgungansprüche, für die nie eine Mark in die Rentenkassen-West eingezahlt worden waren und die Übernahme der Schulden der DDR-Kommunen in dreistelliger Milliardenhöhe durch die von Theo Waigel geführte Bundeskasse, verschlangen bis heute etliche Billionen Euro.  Der Untergang der Ostblock-Handelszone RGW und des Transferrubelsystems stürzte das wiedervereinigte Deutschland in weitere große Probleme. Die ehemaligen DDR-Unternehmen blieben auf ihren unbezahlten Rechnungen sitzen und mussten sich neue Märkte suchen. Viele scheiterten an dieser Herausforderung.

Heute, dreißig Jahre danach, diskutieren wir nur selten über die Freude, die der Wunderherbst 1989 bei uns Deutschen auslöste, sondern meistens über „die Fehler“, die damals ohne Zweifel auch gemacht wurden. Es gab kein Lehrbuch dafür, wie man solche gigantischen historischen Aufgaben meistert und zwei völlig unterschiedliche Volkswirtschaften, die freie Marktwirtschaft und die Planwirtschaft, in der von oben verordnete Jahrespläne den Takt bestimmten, erfolgreich umbaut. 

Der größte Fehler war sicherlich, dass die Politik zu Beginn des Einheitsprozesses dem Ranking der OECD glaubte, das die DDR unter die zehn größten Volkswirtschaften der Welt zählte.  Das war sie nicht. Im Oktober 1989, wenige Tage vor dem Mauerfall, legte der Chef der Planungskommission der DDR, Gerhard Schürer, der Staatsführung eine verheerende Analyse der wirtschaftlichen Lage vor. Sein Fazit: Die Staatsverschuldung der DDR sei so hoch, dass die Zahlungsunfähigkeit unmittelbar bevorsteht. Die Friedliche Revolution hat so gesehen auch für eine Ironie der Geschichte gesorgt. Die verhasste „BRD“ beglich die Zeche, die von der SED (Rechtsnachfolger „Die LINKE!) und ihren sozialistischen Illusionen des „Arbeiter- und Bauernstaates“ hinterlassen worden war. Das klingt ernüchternd. Vielleicht wäre es gut gewesen diese Tatsache all jenen zu vermitteln, die nach dem Rausch auch heute noch immer nach Fehlern und Schuldigen suchen und sie in der Bundesregierung und den demokratischen Parteien finden wollen.

Nachtrag: Der bekannte DDR-Dissident, der Dichter und Liedermacher  Wolf Biermann, 1976 aus der DDR zwangsweise ausgebürgert, hat in einem Interview mit dem Hamburger Magazin DER SPIEGEL (Ausgabe 39a v. 25.09.19, S.38) ein Sonett für Angela Merkel rezitiert, in dem er aus seiner Sicht alles zum Thema Deutsche Einheit sagt, was zu sagen ist:

Das ist es, woran unser

Vaterland krankt

Es leidet am sauertöpfischen

Fun Fatal! Mancher deutsch-

deutsche Bürger verdankt

Dir mehr, als er ertragen kann

Drum redet er sich seine Kanzlerin

schlecht

Die „Merkel muss weg„Rotte

redet Dich klein

„Mir san halt a Scheißvolk!“ –

So dichtete Brecht

in Ost-Berlin böse im Nachhinein

Nach zwei Diktaturen wütet 

nun krass

Ein neidkalter Friede voll

Fremdenhass

Die Geizgeilheit, sie macht

auch Steinreiche arm

Die Freiheitsrechte verlier’n ihren

Charme

Der Wiedervereinigungsrausch

ist passé – gelernten Sklaven tut 

Freiheit halt weh.

(Wolf Biermann 2015)

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