BoJo oder das Volk gegen seine Vertreter?
Von wegen „stiff upper lip“ – übersetzt etwa „Haltung bewahren“ – davon war am ersten Tag nach der Rückkehr der Unterhausabgeordneten auf die grünen Lederbänke in Westminster wenig bis gar nichts mehr zu spüren. Wo sich sonst die Palamentarier mit „my right honorable friend“ oder „the right honorable …) ansprechen, flogen Injurien munter hin und her. „Verräter“, „Lügner“, „Truthähne, die Weihnachten nicht mehr erleben werden“, so etwas hatten die Briten bisher noch nicht erlebt. In dieser wenig rühmlichen Ausnahme von der sonst gepflegten Debattenkultur setzte besonders einer den Grundton – Premierminister Boris Johnson. Die Kritik schäumte heftig auf. Selbst die Bischöfe der anglikanischen Kirche bezeichneten die Wortwahl und den Auftritt des Premiers im House of Commons als „absolut unakzeptabel.
Zur jüngsten Entscheidung des höchsten britischen Gerichts, des Supreme Courts, merkte der Regierungschef lapidar an, er respektiere die Unabhängigkeit der Justiz, aber die Entscheidung der elf Richter sei falsch. Die hatten ihm einstimmig bescheinigt, dass er rechtswidrig handelte, als er eine fünf Wochen lange Suspendierung des Parlaments, die so genannte Prorogation, von der Königin verordnen ließ. Normalerweise dauert sie vor Regierungserklärungen eine Woche. Dass er dabei das Staatsoberhaupt, Elisabeth II., offensichtlich über seine wahre Absicht im Unklaren ließ oder sogar anlog, hätte ihn in früheren Zeiten unweigerlich an den Galgen gebracht. Zu seinem Glück wurde die Todesstrafe in zwei Schritten in den Sechziger Jahren und – Achtung Boris Ironie der Geschichte ! – unter Hinweis auf die Europäische Menschenrechtscharta – 1998 zuletzt auch aus der Militärgerichtsbarkeit des Vereinigten Königsreichs verbannt. „Nowadays“ – Heutzutage folgt solchem Handeln normalerweise die völlige gesellschaftliche Ächtung. Unbeeindruckt vom starken Gegenwind handelt Bojo nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig ungeniert“. Keine Spur von Demut oder Einsicht!
Der Mann hat keine Skrupel. Er agiert in einem bemerkenswert polemischen Wahlkampfmodus. Da wird das Florett der Rhetorik beiseitegelegt und zum rostigen Beil gegriffen. Boris Ziel sind Neuwahlen, weil er hofft, dass ihm die Wähler Recht geben und sich gegen ihre Vertreter im Unterhaus wenden werden. „Das Volk gegen seine Vertreter“ lautet Johnsons Devise. Ob das den gewünschten Erfolg bringt, darf bezweifelt werden. Die Umfragen sehen die Tories zwar in einem leichten Aufwärtstrend. Von einer Mehrheit, die eine Alleinregierung seiner Partei ermöglicht, ist der Premierminister allerdings noch weit entfernt. Erschwert wird die Operation „Siegreiche Neuwahlen“ durch die miesen Sympathiewerte des Amtsinhabers.
In der Hoffnung, dass sich sein Bild bei den Wählern aufhellt, braucht BoJo nach seiner festen Überzeugung den Brexit zum 31. Oktober – ohne Wenn und Aber. Er setzt dabei vor allem darauf, dass seine Frechheit siegt. Deshalb versucht er die Grauzonen zu nutzen, die ihm ein politisches System bietet, das statt auf einer niedergeschriebenen Verfassung auf einer Mischung aus historischen Dokumenten, wie der „magna charta“ und der “Bill of Rights“ aus dem 13. und dem 17. Jahrhundert, einigen wenigen Gesetzesartikeln, Gewohnheitsrecht und „gentlemen‘s agreement“ fußt.
Johnsons Behauptung, dass die Vertagung des Parlaments vor einer Regierungserklärung, der sogenannten Queens Speech, politischer Natur sei und damit nicht Sache des Gerichts, beweist, wie leicht es für skrupellose Amtsträger ist, bisher geltende Regeln in ihrem Sinne umzuinterpretieren. Bei Licht betrachtet, war es der Versuch, die Gewaltenteilung in einer parlamentarischen Demokratie zu Gunsten der Exekutive zu verschieben. Da die Regierung großen Einfluss auf die Gestaltung der Tagesordnung im Unterhaus hat und mit ihrer Parlamentsmehrheit auch den Parlamentspräsidenten, den Speaker, bestellt, hat die britische Regierung entgegen dem verbreiteten Mythos von der „ältesten Demokratie der Welt“ ohnehin mehr Möglichkeiten Macht auszuüben als unsere Bundesregierung.
Dieser Tage erschien dazu ein bemerkenswertes Interview mit dem noch amtierenden Speaker John Bercow in der Neuen Zürcher Zeitung. Er erklärte, dass er Abstimmungen über Alternativvorschläge aus den Reihen des Parlaments „im Rahmen der rechtlichen Konventionen zugelassen“ habe, weil „dadurch der Wille der Parlamentsmehrheit getestet werden konnte.“ Und weiter: „Das hat der Regierung nicht gepasst. Nach meinem Verständnis war das aber demokratisch richtig. Es ist nicht meine Aufgabe, die Regierung vor parlamentarischen Mehrheiten zu schützen.“ Damit offenbarte der inzwischen weit über Großbritannien hinaus bekannte Politiker, dass er den Rechtsrahmen in dieser Zeit der Polarisierung auch im Sinne der Regierung hätte auslegen können. Um die Rechte des britischen Parlaments zu schützen und zu stärken, denken deshalb etliche Politiker laut darüber nach, ob es nicht an der Zeit wäre eine geschriebene Verfassung einzuführen. Sie soll die bestehenden Grauzonen entfernen und alles das zusammenfassen und konkretisieren, was zwar als guter Brauch gilt aber nicht kodifiziert ist.
Bis zum nächsten EU-Gipfel, auf dem der Abschied Großbritanniens aus dem Staatenbund besiegelt werden soll, sind es nur noch knapp zwanzig Tage. Die haben es allerdings in sich. Der TV-Sender PHOENIX darf sich schon jetzt auf weiter hohe Einschaltquoten freuen, wenn Bercow die Temperamente der „right honorable MPs“ mit seinem berühmten „Oooooorder“ zu zügeln versucht. Der letzte Akt wie aus einem Shakespeare-Drama beginnt. Es fehlt nur noch Hamlet und sein bekannter Satz: „Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.“