Bojo und der Brexit – „Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ William Shakespeare/ Hamlet
„No ifs, no buts!” – Kein Wenn und Aber! Diese Redewendung hat der neue Premierminister Boris Johnson als Maxime seiner Regentschaft ausgegeben. Irgendwie erinnert diese starre Haltung an den betagten Witz über die beiden Blondinen, die auf einem Baum geklettert sind und an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Eine Frau kommt vorbei und warnt die beiden. Doch sie sägen weiter und stürzen samt Ast in die Tiefe. Als sie im Krankenhaus aufwachen sehen sie die Krankenschwester und rufen: „Da ist sie wieder – die Wahrsagerin!“
Auch Johnson ist blond. Aber dumm ist BoJo nicht, sagen übereinstimmend alle, die ihn kennen. Im Gegenteil. Er gilt als äußerst intelligent. Er war Journalist und Buchautor, Oberbürgermeister von London, Abgeordneter und Minister. Zwei Romane und eine Biographe über sein großes Vorbild Winston Churchill zieren die Liste seiner Veröffentlichungen. Sein fataler Hang zu Fake-News und sein kreativer Umgang mit der Wahrheit verunziert seine Vita allerdings ziemlich. Nun, nach seiner Ernennung zum Premierminister behindert offensichtlich der feste Glaube an sich selbst und daran, alle Hindernisse aus dem Weg räumen zu können, den klaren Blick für die Risiken seines Brexit-Kurses.
Eine Erkenntnis hat der neue Premier in den ersten Tagen seiner Amtsführung dennoch wohl schon gewonnen. Neue Verhandlungen mit der EU über einen geregelten Austritt aus der Gemeinschaft wird es voraussichtlich nicht geben. Mehr als die vorliegenden Angebote für eine sanfte Landung der britischen Volkswirtschaft in der Nach-Brexit-Zeit werden nicht gemacht. „Do or die!“ -Friss oder stirb! Deshalb hat Johnson seine Minister und vor allem den Schatzkanzler Sajid Javid beauftragt, Vorbereitungen für einen ungeordneten Brexit zu treffen. Der Neue in Downing Street No. 10 will auf Biegen und Brechen sein Versprechen erfüllen, dass Großbritannien am 1. November dieses Jahres nicht mehr Mitglied der EU ist; – auch wenn es von allen Seiten Experten-Warnungen hagelt. Dafür belastet er auch langjährige Partnerschaften. Wenn er, wie geschehen, den obligaten Antrittsbesuch beim französischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin verweigert, außer Macron und Merkel wären bereit, das Brexit-Abkommen mit der EU noch einmal aufzuschnüren.
So grübelt der Schatzkanzler statt in die Sommerferien zu reisen, wie er alles bezahlen kann, was Boris Johnson in seiner ungenierten Art bereits fest verspochen hat. 20.000 neue Polizisten sollen eingestellt werden. Kosten rund eine Milliarde Pfund. Städte, die ökonomisch auf der Strecke geblieben sind, sollen Hilfen in Höhe von 3,6 Milliarden Pfund bekommen. Der Steuertarif soll verändert werden, damit der Höchststeuersatz von 40 Prozent erst ab einem Jahreseinkommen von 80.000 Pfund greift und nicht wie jetzt schon bei 50.000 Pfund. Kosten rund 9 Milliarden Pfund jährlich. Dazu addiert sich der Ausgleich für die wegfallenden Milliarden-Zahlungen aus den diversen EU-Fonds für Landwirtschaft und sonstige Strukturhilfen. Javid ist jetzt auf die „ganz kreative, neue“ Idee verfallen, die Staatsschulden zu erhöhen. Die Schuldenquote liegt aktuell bei knapp 88 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das sind 1,8794 Billionen Pfund. Die Summe hat sich seit 2009 nahezu verdoppelt.
Dabei spräche der Blick auf die aktuelle Kursentwicklung des britischen Pfund Sterling gegen die Politik des Schuldenmachens. Die einst so stolze Währung des Empires ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie steuert die Parität (1:1) gegenüber dem US-Dollar und dem Euro langsam aber sicher an, wie ein Greis mit dem Rollator die Cafeteria des Altenheims. Von den einstigen Höhen, die ich selbst noch erlebt habe, als man noch weit über zehn D-Mark für ein Pfund hinlegen musste, ist das Pfund weit, weit entfernt. Neue Schulden des Staates würden diese Entwicklung weiter beschleunigen.
Der Abstieg der britischen Währung hängt nicht nur mit den vielen Unsicherheiten zusammen, die momentan die Händler an den Finanzmärkten bewegen. Die Fahrt in den Kurskeller ist in erster Linie ein Misstrauensvotum gegen den außenpolitischen Kurs der Londoner Regierung, die mit „weg von Europa – näher zu den USA“ ausreichend beschrieben ist.
Man könnte einwenden, dass ein billiges Pfund die Marktchancen britischer Produkte im Ausland verbessert. Allerdings sind die britischen Exportzahlen schon jetzt stark gesunken. Es darf auch bezweifelt werden, ob eine Volkswirtschaft in dieser Situation erstarken kann, deren produzierende Industrie es nur noch auf einen Anteil von knapp 9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bringt. Abwertungen von Währungen, wie jetzt beim britischen Pfund, bergen auch immer die Gefahr steigender Preise und damit verbunden inflationärer Tendenzen in sich.
Auch auf den Arbeitsmarkt wird der Verfall des Pfunds wirken. Noch wirkt er stabil, aber die Zeichen an der Wand sind unübersehbar. Der Anteil der so genannten „Gig Economics“ hat sich in den vergangenen drei Jahre mehr als verdoppelt. Fast fünf Millionen Briten, ca. 18 Prozent aller Arbeitnehmer, arbeiten scheinselbstständig in den „gig jobs“. Das ist eine moderne Form des Tagelöhner-Dasein. Sie müssen auf Abruf bereitstehen, werden auf Stundenbasis entlohnt und haben keinerlei soziale Absicherung. Osteuropäische Arbeitskräfte, die jetzt noch ihr Geld in den Pflegeberufen und anderen Dienstleistungsbereichen der Insel verdienen, werden es sich gut überlegen, ob sie nicht in andere Länder ausweichen, wenn ihr Lohn zuhause nicht mehr soviel wert ist, wie früher. Ihre Kaufkraft, ihre Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge werden fehlen.
In der Produktion wird Großbritannien etliche tausend Arbeitsplätze verlieren. Wie andere Automobilproduzenten zuvor, hat jetzt das französische Unternehmen PSA zu dem der britische Opel-Ableger Vauxhall gehört, die Schließung des Werkes in Ellesmere Port angekündigt. Auch deutsche Autobauer überlegen, wie es an ihren britischen Standorten im Vereinigten Königreich weitergehen soll. Die Gretchenfrage lautet, ob sich die Produktion dort noch rechnen wird.
Nicht zuletzt stehen auch dem für die britische Volkswirtschaft so wichtigen Finanzplatz London schwere Zeiten bevor, wenn es zu einem ungeordneten Brexit kommen sollte. Über Nacht hätte Großbritannien den Status eines Drittlandes, so wie die Schweiz.
Die Börse der Eidgenossen ringt momentan mit der EU um die Anerkennung und den Zugang zu den Finanzmärkten. Brüssel verweigert die so genannte Äquivalenzerklärung. Das ist die Anerkennung der Gleichwertigkeit des Schweizer Börsenhandels mit dem der EU. Für London ist das bis zum 31. Oktober keine Frage. Aber danach? Die EU hat schon einmal die Folterwerkzeuge herausgekramt. Die EU-Finanzaufsicht Esma hat vor wenigen Wochen eine Liste mit über 6.000 Aktien veröffentlicht, die nach dem Brexit nicht mehr ohne Äquivalenzerklärung in London gehandelt werden dürfen. Das wäre ein großer Verlust für den nach britischer Definition größten Finanzplatz der Welt. Ob die EU der Versuchung widerstehen wird, mit wenig Aufwand den Börsen in Frankfurt, Paris und Mailand mehr Handelsvolumen zu schenken, ist fraglich. Kasse macht bekanntlich sinnlich!
Bisher zeigt sich Boris Johnson allen Problemfeldern gegenüber unempfindlich bis ignorant. Er glaubt an seine Mission, Großbritannien vor der EU retten zu müssen, wie einst Winston Churchill als er Nazi-Deutschland die Stirn bot und nach sehr viel „Blut, Schweiß und Tränen“ obsiegte. Nur filtert der neue Bewohner von Downing Street No. 10 dabei zwei Fakten aus. Sein großes Vorbild war einer der Ideengeber für die Europäische Union. In seiner berühmten Züricher Rede im Herbst 1946 forderte Churchill die „Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa“ als Antwort auf die Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkrieges. Und Zweitens: BoJos Vorbild kannte auch dramatische Niederlagen. Churchills Name ist in den englischen Geschichtsbüchern auch eng mit der Schlacht bei Gallipoli im Februar 1915 verbunden. Im Ersten Weltkrieg hatte die Royal Army zusammen mit einigen Verbündeten versucht, die Halbinsel vor Istanbul zu besetzen. Es wurde eine verheerende Niederlage mit mehr 100.000 gefallenen Soldaten und über 250.000 Verwundeten. Das Misslingen wurde dem Ersten Lord der Admiralität angelastet. Sein Name: Winston Churchill. Johnson sollte noch einmal sein Buch über das Vorbild zur Hand nehmen. Der Brexit hat das Potenzial zu Boris Johnsons Gallipoli zu werden.