Frommer Selbstbetrug
„Herausforderer werden in der Regel nicht ins politische Spitzenamt gewählt. Die Inhaber dieser Ämter werden abgewählt.“, lautet eine Binsenweisheit aus der Welt der Wahlforscher. Daher waren die Ergebnisse der Landtagswahlen beim Auftakt ins Superwahljahr 2021 keineswegs so überraschend, wie es das Rauschen im Blätterwald und die Berichte in den elektronischen Medien vermittelten. Der Sieg der Amtsinhaber Malu Dreyer und Winfried Kretschmann kam keineswegs unerwartet. Die politische Arbeit der beiden wird vor Ort bis weit ins Lager traditioneller Unionswähler anerkannt und die Pandemie bedingte Omnipräsenz der Amtsinhaber in den Medien tat ein Übriges, die „Herausforderer“ in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nicht groß in Erscheinung treten zu lassen.
Das erklärt zum Teil das schlechte Abschneiden in der Wählergunst. Trotzdem müssen die beiden Landesverbände der CDU ihre Wahlkampfstrategie hinterfragen. Hatten sie kein landespolitisches Thema gefunden, das gegen das Thema Corona und seine Bekämpfung ankam? Hatten die Verbände bei der Kür ihrer Spitzenkandidaten keine glückliche Hand? Zumindest in Baden-Württemberg darf das bezweifelt werden. Das hat wenig mit der Person der Frontfrau Susanne Eisenmann zu tun, als mit ihrer Funktion im Kabinett Kretschmann. Wie alle ihre Amtskollegen in den anderen Bundesländern war die Kultus- und Schulministerin Zielscheibe des Lockdown-Frusts. Geschlossene Schulen, Distanzunterricht und Online-Lernen haben viele – nicht nur die Schüler und Lehrer – an den Rand des Erträglichen gebracht. Deshalb eignete sich die Kandidatin bestens als Sündenbock. Der ist bekanntlich kein Herdentier. Unterstützung durch ihren Ministerpräsidenten durfte sie nicht erwarten, zumal das Verhältnis von Frau Eisenmann und Herrn Kretschmann als belastet gilt. Die CDU im Ländle sollte sich schnell eingestehen, dass es ein Fehler war, ausgerechnet die Kultusministerin gegen Kretschmann ins Rennen zu schicken. Es war schließlich kein Geheimnis, dass die Schulpolitik ein ebenso guter, wie beliebter Schuldabladeplatz ist.
Nun lecken die Unionsgranden öffentlich die Wunden. CDU und CSU geißeln sich selbst mit warnenden Worten. Das untermauert das Urteil der Medien, wonach die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein Desaster für CDU und CSU waren. Aber aufgepasst! Selbstvorwürfe können schnell zur Selbstzerstörung werden.
Wie man mit wenig berauschenden Wahlergebnissen strategisch geschickt umgeht, hat die SPD an diesem Abend dem Publikum vorgemacht. Verloren? Nein! Das haben nur die anderen. Die SPD erlebte nach eigener Schätzung einen „sehr erfreulichen Abend“. Der Kanzlerkandidat Olaf Scholz sprach sogar von neuen Mehrheiten ohne CDU und CSU und einer Bundesregierung unter seiner Führung. Scholz gelang es, die „Wahrheit“ dort zu suchen, wo er sie finden wollte.
Dabei grinste er „schlumpfig“ darüber hinweg, dass seine Partei in Rheinland-Pfalz trotz der sehr beliebten Ministerpräsidenten Manu Dreyer im Vergleich zur letzten Landtagswahl knapp ein Prozent der Wählerstimmen verlor und sich in Baden-Württemberg mit einem Minus von fast zwei Prozent sogar in die Nähe eines einstelligen Stimmenergebnisses bewegte. Auch die aktuellen Meinungsumfragen in der ersten Nachwahlwoche unterstreichen dies. Während Grüne und FDP in der Demoskopie vom so genannten Band-Waggon-Effekt profitieren, der den Gewinnern kurz nach einer Wahl noch einmal zusätzlichen Auftrieb in der Wählergunst gönnt, verharrt die SPD auf dem Vorwahlniveau im kleinen zweistelligen Prozentbereich.
Sehen so Sieger aus? Die Genossen neigen offenbar zu frommen Selbstbetrug. Bei nüchterner Betrachtung der Lage müsste den Sozialdemokraten eigentlich klar werden, dass es nach heutigem Stand der Umfragen in welcher Koalition auch immer nur zur Rolle des Juniorpartners reichen wird. Wie man von Altenpflegerinnen und -pflegern weiß, ist die Verleugnung von Fakten eine altersbedingte Erscheinung. Sie macht auch vor der alten Tante SPD nicht halt.